Von Bilderbüchern und Würgereizen
Es ist ein nicht mehr wegzudenkendes Ritual, das zu jedem Schlafengehen eingehalten wird: das Vorlesen einer Geschichte. Das Kind kuschelt sich gemütlich in meinen Arm, wir decken uns bis zu den Nasenspitzen zu, jeder schnappt sich einen Teddy – und dann lese ich mich unfreiwillig durch teilweise echt nervigen Schrott.
Es gibt Bücher, die werden nur einmal müde betrachtet – und dann nie wieder. Obwohl sie (aus meiner erwachsenen, also unprofessionellen) Sicht nett sind, bunt vielleicht, lustig vielleicht, nicht besser oder blöder als die anderen jedenfalls. Aber das Kind zieht hier ganz klare Grenzen, und auch wenn ich die weder sehe noch verstehe, so bin ich doch gezwungen sie zu akzeptieren, und das bedeutet: einige Bücher werden ignoriert, und andere liest man oft. Ganz oft. So richtig oft. Bis man sie auswendig kann. Bis man mit geschlossenen Augen im Bett liegt und im richtigen Tonfall mit geschlossenen Augen den Text aufsagt und an den richtigen Stellen umblättert. Oder sauer aufstößt. Mein aktuelles Hass-Buch ist „Der Regenbogenfisch“, der kleine Fisch, der etwas hat, was all die anderen Fische nicht haben, nämlich wunderhübsche Glitzerschuppen. Das ruft Neider aufs Tapet – wie den kleinen blauen bettelnden Fisch. Als der Regenbogenfisch keine seiner Glitzerschuppen rausrücken will, wird er von der Masse der Fische mit Missachtung gestraft – emotionale Erpressung nennt man das, oder? Klar, dass der Fisch sich so nicht wohlfühlt. Vom weisen Oktopus erhält er den Rat, seine Glitzerschuppen an die anderen Fische zu verteilen; schlussendlich befolgt er den Rat, und nun besitzt jeder Fisch genau eine Glitzerschuppe.
Fazit: der Regenbogenfisch gibt auf, was ihn einzigartig macht, um mit der Masse schwimmen zu können. Die Neider sind hier im Recht: die Fische, die einfach frech einfordern, was sie selbst nicht haben. Der Fisch muss sich seine Freunde erkaufen, so wie er ist wird er nicht akzeptiert. Alles gehört allen, echter Unterwassersozialismus. Blöder Text, zweifelhafte Moral, langweilige Illustration – aber das Kind liebt das Buch. Und findet es immer, auch wenn es aus Versehen unters Sofa gefallen ist.
Im konkreten Fall unterstelle ich geschicktes Marketing, denn die Kinder werden allein von der Glitzerfolie im Buch wie magisch angezogen. „Schaff das Buch außer Reichweite, dann hast du deine Ruhe“ war der häufigste Rat, aber darum geht es mir gar nicht primär. Hoffentlich erkenne ich den richtigen Zeitpunkt, ab dem Austausch über das Gelesene mit dem Kind in kritischer Weise möglich ist. Und bis dahin mache ich die Faust in der Tasche und lese. Stecke mir manchmal heimlich den Finger in den Hals, aber ich lese. Über Conni und ihren Freund Simon, die Pizza backen – der Teig ist eine Backmischung, saubermachen und aufräumen muss die Mama. Über Ute und Martin, die in der Bahn schwarzfahren, um einen Hundedieb zu verfolgen (!). Über Leon (der kleine Penner), der, statt mit den anderen Kindern zu spielen, lieber auf dem Schoß der Kindergartenerzieherin sitzt und „mit ihr schmust“. Über gender-neutrale Schwachsinns-Namen wie „Pip“ und „Posy“. Ich frage mich, ob es etwas zu bedeuten hat, dass die Mamas in den Büchern meist schnellverfahrenfreundliche Herrenschnitte und die Mädchen ausnahmslos rosa tragen und Sachverhalte erklärt werden wie „Papa repariert Maries Fahrrad. Paul will sein Rad später immer allein reparieren. Deshalb übt er das jetzt schonmal.“ Ziemlich viele Menschen fühlen sich dazu berufen, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren. Und man kommt nicht umhin sich stellenweise zu fragen, was diese Leute zuvor geraucht oder sonstwie konsumiert haben…
Hintergrundbild: 120l-Aquarium mit Neons und Gruenzeug, 1500x 1000px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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