Videoaufnahmen im Kindergarten
Die Anmeldung meiner Tochter im Kindergarten war eine umfangreiche Sache: ich musste viele viele DIN-A4-Seiten ausfüllen: Bankverbindung angeben, hat das Kind Allergien? (mehrfach), meine Handynummer (mehrfach), wer ist berechtigt, das Kind abzuholen (mehrfach); Vorlieben des Kindes, Sprachgebrauch, allgemeiner Entwicklungsstand; Einverständniserklärungen en masse.
In einem Nebensatz (und ganz ohne eine Einverständniserklärung zu fordern!) wurde mir mitgeteilt, dass die Kinder in ihrem Alltag regelmäßig gefilmt werden. Ich war völlig perplex – beim Erstgespräch in der Einrichtung war davon überhaupt keine Rede gewesen. Etwas sprachlos machte ich mich am selben Abend noch daran, mehr zur Theorie dahinter zu erfahren, fand allerdings nicht viel Brauchbares. Wie funktioniert das in der Praxis? Sind in allen Regalen kleine Kameras installiert, die permanent aufzeichnen? Rennen die Angestellten mit der Handkamera herum? Einmal im Monat, wöchentlich, täglich? Wie aussagekräftig sind die Aufnahmen dann überhaupt? Wie und wie lange wird gespeichert, wer hat Zugriff? Datenschutz? Was wird damit bezweckt?
Mit meinem Fragenkatalog suche ich das Gespräch mit der Angestellten. In den Einrichtungen werden die Kinder „professionell beobachtet“, der Vorteil von Videoaufnahmen sei, dass diese von mehreren Betrachtern subjektiv bewertet werden werden können, und mehrere subjektive Bewertungen der Aufnahmen ergäben dann ein großes Ganzes. Was mich an der Sache ja schon spontan stört ist, dass die Auswertung ja nur so objektiv sein kann wie die Aufnahmen an sich es sind. Denn schon das Schauen durch den Sucher macht den filmenden Menschen zum subjektiven Betrachter: warum wird jetzt gefilmt, warum gerade diese Szene?
Ja, erklärt sie mir fröhlich, sie filmen die Kinder mit einer Handkamera; sie fragen die Kinder auch vorher immer, ob das okay sei. (Was ich ziemlich daneben finde, denn Kinder in dem Alter haben da gar nichts zu sagen – und sagen ohnehin ja.) Ich frage sie, wie brauchbar solche Aufnahmen überhaupt sind, da sich meiner Erfahrung nach die wenigsten Menschen vor einer Linse natürlich verhalten. Sie bestätigt, dass die Kinder von der Kamera recht irritiert sind, was sich nach etwa zehn Minuten aber lege. Und dann folgt ein Satz, der mich unmittelbar mutlos werden lässt: „Die kennen das ja nicht anders, die sind da dran gewöhnt und akzeptieren das voll.“
Ist es das, was wir wollen? Ist das gut? Sollen sie aufwachsen in der Gewissheit, ständige Beobachtung (und deren Dokumentation) sei normal oder gar wünschenswert? Die Frau ist ratlos. Sie erklärt mir, dass diese Aufnahmen ausgewertet, geschnitten und beim Elterngespräch vorgeführt werden. Bei den Eltern käme das extrem gut an, und ob ich nicht auch diese Filme von meiner Tochter sehen wolle? Nein, das will ich nicht. Ich habe lange gebraucht, ehe ich meine diffusen Gedanken, meine Abneigung und mein Missfallen überhaupt in Worte fassen konnte, und ich versuche, es zu formulieren, auch wenn es mir immer noch nicht gut gelingen mag: ich weiß, dass sich der Mensch seiner Umgebung graduell anpasst, sich, je nach Umgebung, anders verhält. Ich bin zu Hause Mama, Putzfrau, Köchin, Trösterin – auf der Arbeit Sysadmin, Kollegin, Angestellte. Der Mann ist zu Hause Privatmann und der Vater unserer Kinder, und auf der Arbeit ist er $anders, und das ist sein gutes Recht. (Würde man ihn auf der Arbeit filmen, würde ich auch das nicht sehen wollen!) Er hat das Recht, dort genau so zu sein, wie er dort sein möchte – und dieses Recht hat meine Tochter ebenfalls, auch wenn sie noch keine drei Jahre alt ist. Hier zu Hause ist sie Tochter, im Kindergarten ist sie ein zu betreuendes Kind. Es ist ihr gutes Recht, sich dort eine eigene Persönlichkeit aufzubauen, die nichts mit dem Mama-Dunstkreis zu tun hat. Das ist ihres, und das soll so auch bleiben. Meine Aufgabe ist es, mit ihr in Dialog zu treten, so dass sie mich weiterhin an ihrer Gefühlswelt und ihren Erlebnissen teilhaben lässt. Diese Aufnahmen, sie erscheinen mir wie ein Vertrauensbruch, wie die Missachtung ihrer Privatsphäre. Und ich kann nicht einschätzen, wie sich solch gesammeltes Material in ihrer Zukunft auswirken wird. Niemand kann das.
Ich muss den Angestellten, denen ich bald täglich stundenweise mein Kind anvertraue, vertrauen können. Kann ich das nicht, geht ganz grundsätzlich etwas schief. Das Kind täglich dort abzuliefern und dann wegen jedes Piepschens einen Videobeweis anzufordern finde ich… naja, äußerst befremdlich. Dass diesem Ansinnen auch noch nachgegangen wird ist meines Erachtens noch befremdlicher.
Sehr viel eher als gedacht werden wir unsere Kinder in Sachen Medienerziehung bilden müssen. Und damit meine ich mit uns wirklich uns, denn auf meine Fragen bezüglich der Aufbewahrung, Aufbewahrungsfristen, Zugriffskontrolle und so weiter habe ich keine beziehungsweise keine zufriedenstellenden Antworten erhalten. Es fühlt sich für mich nach einer Gratwanderung an zwischen Datenschutz, Schutz der Privatsphäre und „alle anderen machen aber“ – außer uns hat nie jemand diese Praxis bemängelt, wir sind die ersten, die jeglicher Art von Videoaufzeichnung, Verbreitung von Fotos im Internet usw. widersagten. Machen wir unser Kind zum Außenseiter? Wie hoch ist der Preis, wenn wir es nicht tun?
Update: ich hätte gleich auf mein Bauchgefühl hören sollen… Schlussendlich haben wir das Kind nach vier Wochen in der Einrichtung abgemeldet. Und wir hatten irrsinniges Glück, an anderer Stelle und völlig unkompliziert einen freien Platz zu ergattern – einen, der uns so richtig froh und zufrieden macht…
Hintergrundbild: 2448x 2448px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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