Reif für die Insel
Als Kind wollte ich immer einen “Game Boy” von Nintendo, meine Eltern konnten der Sache allerdings nicht viel abgewinnen. Ziemlich genau 30 Jahre später beschloss ich, lange genug gewartet zu haben – und kaufte mir eine Switch. Allerdings habe ich jetzt selbst Kinder: und mit denen muss ich das Gerät teilen.
In den ersten beiden Wochen war das unkritisch: als Spiele hatten wir “Super Mario Party” und “New Super Mario Bros. U Deluxe”, und beide trieben die Kinder lediglich in den Wahnsinn, sprich „zu maximalen Wutanfällen“. Doch dann kam auf besondere Empfehlung (hallo Feu! 💚) „Animal Crossing New Horizons“ ins Haus – damit sollte sich alles ändern. Ich hatte mich vor dem Kauf exakt überhaupt nicht informiert, worum es in dem Spiel geht und wie es funktioniert, also machte ich mich erst einmal ein wenig damit vertraut. Eine hübsche idyllische Insel ganz für mich allein, Sonnenschein und diese unverkennbare Nintendo-Niedlichkeit… Ja, mir gefällt das. Ist genau das richtige für einen Lockdown. Nach etwa einer Woche präsentierte ich es den Kindern, die aufgrund ihrer Mario-Frustrationserfahrungen erst sehr verhalten reagierten, dann jedoch rasch dem Charme des Kirschen pflückenden Männchens erlagen: nun wollten sie auch so ein Männchen. Und das war das Ende jeglicher Idylle auf Babyfonien.
Ich (beziehungsweise mein Charakter “Unixe”) bin weiterhin “Inselsprecherin”, sprich Verantwortungsträgerin, sprich: eigentlich wie im echten Leben auch. Planung der Inselarchitektur, Ordnung schaffen und halten, Unkraut rupfen, Äste aufheben, Überwachung der Finanzen – alles mein Ding. Sabotiert von zwei minderjährigen Mitspielern, die mir das gesamte Obst weg essen, Blumen wahlweise ausreißen oder zertrampeln, alle Steine ausklopfen, Muscheln und Anleitungen einkassieren und ständig pleite sind.
Die Sternebewertung von Babyfonien ist mies, und all meiner Bestrebungen zum Trotz wird sie nicht besser: immer wieder ermahnt mich die überaus nervtötende Melinda, es lägen “zu viele Dinge” herum. Ursächlich hierfür ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unter anderem das Messie-Grundstück von K1 – unmittelbar zwischen Rathaus und Flughafen gelegen, im Herzen Babyfoniens also. Alles, was ich in Sachen Unordnung, Unsauberkeit und Chaos „in echt“ seit fast neun Jahren verachte, zieht das Kind nun auch digital locker durch: in ihrem asphaltierten (!) Garten stapeln sich Schlitten und Kratzbaum, fürchterliche “Häschentag”-Deko und Möbel, und aus dem mit grellbuntem Tand vollgestopften Haus schallt die lauteste und nervigste Musik, die K.K. zu bieten hat.
K2 hingegen hat einen Nachmittag damit zugebracht, Lagerfeuer zu bauen, denn „ihr war kalt“. Nachdem ihr Garten voll damit war, begann sie meinen Garten aufzufüllen, was zu Lasten meiner Lilienzucht ging. Ihr Nintendo-Charakter ähnelt ihr auf eine beeindruckende Art und Weise, trägt wie sie eine kleine Brille (sowie hin und wieder eine Gurkenmaske im Gesicht) und rennt ständig nackt und barfuß auf der Insel herum – eine Hommage an unsere winterlichen „Warum soll ich eine Jacke anziehen?“-Diskussionen. Sie gräbt unmotiviert Löcher in die Landschaft, stellt Hecken an den Strand, fällt „ganz aus Versehen“ Bäume, schleppt ihr weniges Barvermögen in Richtung „Gyroid“ („Der is ja soooo niedlich!“) – und heult dann, wenn ihr die Sternis ausgehen.
Wenn gar nichts mehr voran geht sitze ich dann abends, wenn die Kinder schlafen, und spiele mit ihren Charakteren. Lasse sie hintereinander fünf Meileninseln umgraben, 20x den „Top-Ankauf den Tages“ bauen, unterstütze ihre Kreditrückzahlungen, räume ihnen hinterher. Ich bestelle ihnen Kleider und Ausstattung, sponsore Tapeten, und manchmal schmeiße ich ihnen auch einfach einen Sack Geld vor die Haustür… Kurzum: ich bin die Mama. Sogar hier.
Dadurch hat das Spiel tatsächlich etwas von seinem hirntoten Charakter verloren, und manchmal bedauere ich das ein bisschen. Beispielsweise resultieren Umbaumaßnahmen in Diskussionen am Folgetag („warum hast du, vorher war schöner, ich will auch das auch können“). Ich kann mit meinem Haus nicht auf den Berg umziehen weil meine Nachbarin K2 bereits „eine große Vermissung“ angekündigt hat, „für immer“ neben mir wohnen, selbst jedoch nicht umziehen will. Achja…
Hin und wieder bekomme ich dann aber eine hinreißende Postkarte von K2, auf der „ich habedichlib“ steht. Und ihr Figürchen schläft überwiegend in meinem Haus und in dem Doppelbett, dass ich extra für uns beide reingestellt hab – weil sie auch auf Babyfonien „immer nur mit Mama kuschellen“ möchte. K1 schickt mir Geschenke, baut mir Möbel und vergräbt sie in meinem Vorgarten – als Überraschung. Die Kinder sind motiviert und haben sehr viel Spaß in einer Zeit, die nicht wirklich spaßig ist…
… der sie in der Rückschau vielleicht aber dennoch auch Positives abgewinnen können – so jedenfalls meine Hoffnung. Denn während sich Eltern zwischen Home-Schooling, Home-Office und Sorgen aufreiben, kämpfen die Kinder mit Langeweile, Einsamkeit und den diffusen Ängsten, die sie von den Erwachsenen aufschnappen Ich nehme mir jeden Tag vor, es irgendwie anders zu machen, $BESSER zu machen, scheitere ebenfalls quasi täglich und frage mich: was macht das aus den Kindern? Welchen Stellenwert wird das alles in ihrer Biografie einnehmen, mein Versagen, aber auch das gesellschaftliche? Fragen, die mich nicht schlafen lassen.
Dann doch lieber Kirschen pflücken auf der Insel.
Hintergrundbild: Mein Spielcharakter mit Heiligenschein auf der Nintendo-Insel, 2020, 1280x 720px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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