Kopf voll Musik
Wenn ich die Noten nicht richtig benennen konnte, schlug er mich.
„Er“, das war mein Musiklehrer; damals, in den frühen Achtzigern. Er war frustriert, denn er hatte es mir erklärt, mehrfach, und eigentlich hatte ich doch auch zugehört. Und nun saß ich über einem Notenblatt und sollte einfach nur den Namen über die jeweilige Note schreiben, C und A und G und E. Doch ich schaute nur und machte nicht, und das frustrierte ihn, sehr sogar; und über jedes annehmbare Maß hinaus.
Ich war vier. Dass ich gar nicht schreiben konnte – das ließ er außer Acht. Oder machte es sich nicht bewusst. Oder es interessierte ihn schlichtweg nicht… Das Konzept „Buchstaben“ sagte mir zu dem Zeitpunkt nichts. Ich sah die Note auf dem Papier und hatte ihren Klang in meinem Kopf, aber darum ging es hier ja offensichtlich nicht. Doch ich war vier, und ich stellte die Autorität eines Erwachsenen nicht in Frage – ich kann nur hoffen, dass das bei heutigen Vierjährigen, zumindest in solchen Konstellationen, anders ist. Irgendwann erzählte ich es meinen Eltern dann doch, und nie wieder hatte ich Unterricht bei diesem Mann.
Aus meiner heutigen, erwachsenen Perspektive heraus sage ich, dass das schon in gewisser Weise geprägt hat; mich, meine Einstellung Lehrpersonen gegenüber, meine Einstellung der (Musik-)Theorie gegenüber. „Die Theorie verdirbt mir bloß den Spaß an der Praxis“ habe ich lange Jahre gesagt, und für mein vierjähriges Ich hat das ja auch definitiv so gestimmt. Der nachfolgende Lehrer hatte es sicher nicht leicht mit mir – ich habe ihn als geduldigen und knuffigen Menschen in Erinnerung. Er spielte selbst ganz wunderbar und ich mochte ihn, aber bei den Theoriethemen sperrte ich mich und ließ sie eher über mich ergehen, als dass ich aktiv daran gearbeitet hätte.
Und wir waren definitiv nicht einer Meinung in Bezug auf die zu übenden Stücke: während er mir Dinge anschleppte wie „Schenkt man sich Rosen in Tirol“ oder „Rosamunde“, beharrte ich auf einem Notenstapel mit Brahms und Chopin. Das könne man auf einer Heimorgel nicht spielen, erklärte er geduldig – und er hatte natürlich recht. Doch ich wehrte mich mit Händen und Füßen gegen diese Alleinunterhalter-Sache, weigerte mich, mit dem Rhythmusgerät zu arbeiten; und die verschiedenen Klangmöglichkeiten schöpfte ich nur aus, wenn ich jemanden ärgern wollte, indem ich das Obermanual auf Xylophon, das Untermanual auf Akkordeon und das Passpedal auf Tuba schaltete. Im Grunde kristallisierte sich früh heraus, dass die Heimorgel das falsche Instrument für mich war, doch niemand (und auch ich nicht) reagierte darauf. Als ich 13 Jahre alt war, endete der Unterricht; ich habe ihn überrundet, sagte mein Lehrer, es gebe nichts, was er mir noch beibringen könne. Das machte mich stolz und traurig zugleich.
Er empfahl mir die aktive Weiterarbeit, ich hätte alle Werkzeuge dazu sozusagen in den Händen. Und ich nahm den Notenstapel mit Brahms und Chopin, und ich musste einsehen, wie sehr er Recht gehabt hatte. Denn bei der Heimorgel gilt „Taste == Ton“, da ist kein Raum für eigene Interpretation. Und es klang falsch, es klang einfach falsch, ich wollte mich mitteilen, irgendwie, über die Musik – aber das klappte nicht. Man spielt Chopin halt auch nicht auf zwei Manuale verteilt. Und dass beim Waltz C-sharp minor Op. 64 No. 2 schlicht die Tasten im Obermanual nicht ausreichen… Ja, das frustriert. Ich musste es einsehen: das, was ich (und wie ich es) spielen wollte, war mit den gegebenen Mitteln einfach nicht machbar.
Ich sah für mich also nur zwei Möglichkeiten, um irgendwie weiterzumachen: Ausbildung in Richtung Kirchenmusik/ Organistin, um der Schiene „Orgel“ treu zu bleiben – wozu ich jedoch zu jung war, das Mindesteinstiegsalter lag bei 15 Jahren – oder Anschaffung eines Klaviers, um spielen zu können, was sich auf der Orgel nicht spielen lässt. Ich war gedanklich für beides offen, beides hätte seinen ganz eigenen Reiz auf mich ausgeübt; mit einer klaren Tendenz zum Klavier, denn Kirchenmusik hätte „spielen vor Publikum“ impliziert, und daran hatte ich noch nie Interesse. Das war aber auch egal, denn beides stand nicht ansatzweise zur Debatte. In der Kernfamilie hatten sich derweil verschiedene Verhaltensweisen etabliert, die mir den Spaß am Spiel nachhaltig verdarben; und so spielte ich nur noch, wenn ich allein zu Hause war.
Und irgendwann spielte ich dann überhaupt nicht mehr.
Wir ihr richtig vermutet: hier steht vieles zwischen den Zeilen. Und das ist gut so, da gehört es auch hin, ich will dem gar nicht zu viel Raum lassen. Doch wenn ich so zurückschaue: wie schade um die verschenkte Zeit, das verschenkte Potential. Ich war gut, und ich hätte besser werden können. Meine Musik hätte mich auf meinen Wegen begleiten können – stattdessen machte ich Fingersatzübungen auf der Schreibtischplatte und beschränkte meine „Tastenvirtuosität“ auf Computergedöns.
Aber ich habe ja auch keine „Klavierhände“, wie mir zu Zeiten immer wieder und voller Gelächter versichert wurde; eher Bauarbeiter-Handwerker-Pfoten1, nicht graziös, nicht schmal, nicht elegant. Und mit zehn Fingern, von denen nur neun vollständig nutzbar sind, unzureichend. Doch die fehlende Musik war jahrelang wie ein Juckreiz im Gehirn, just an der Stelle, an die man nicht rankommt. Da halfen mir auch keine YouTube-Videos, keine Spotify-Playlisten – es fehlte mir.
Zwischenzeitlich hatte ich dann ein „richtiges“ Klavier, aus einer Haushaltsauflösung. Und zum Glück nicht teuer: denn es war so verstimmt, dass sich nicht darauf spielen ließ – und, wie sich herausstellte, so kaputt, dass es sich nicht mehr stimmen ließ. Und die Orgel hab ich zwar, aber sie steht verpackt im Keller: zuletzt wies sie signifikante technische Defekte auf. Defekte, die zu beheben ich mich nicht in der Lage sehe. Mit genug Zeit- und Geldeinsatz mag das gehen, doch selbst dann, so wurde mir klar, hätte ich lediglich wieder ein Instrument, das doch eigentlich nicht das ist, was ich will. Man spielt Bach ja auch nicht auf der Trillerpfeife, wenn er sich anhören soll wie Bach; und Darudes „Sandstorm“ nur dann auf der Blockflöte, wenn man Leute zu Tode nerven will. Aber dann klingt es eben nicht wie Darudes „Sandstorm“.
In den letzten Monaten ließ ich also alle Paypal-Spenden, alle Erlöse der Sammlungsauflösung, alles, was irgendwie ging, meinem „E-Piano-Fonds“ zufließen. Und dann war da natürlich noch das Preisgeld, das ich für mein Foto erhalten hatte. Dennoch machte ich mir den eigentlichen Schritt selbst sehr schwer: muss das denn sein?, keine Klavierhände, vermutlich bekomme ich es eh nicht hin, und das in meinem Alter. Ja, diese Dinge prägen. Und damit ringt man auch dann, wenn der Verstand ganz klar das Gegenteil kommuniziert.
Aber dann habe ich in einer der vielen ohnehin schlaflosen Nächte eine Ecke des Arbeitszimmers freigesprengt - und an dieser Stelle steht nun ein schnuckeliges mattschwarzes E-Piano. Denn da ist dieser eine Track, den ich in den letzten 25 Jahren sicher 1000x gehört und mir dabei vorgestellt habe, ich würde ihn spielen; der Track, den ich Note für Note im Kopf habe, und manchmal verfolgt er mich bis in meine Träume. Ich bezweifle, dass die vielleicht 20 Jahre, die ich noch habe, bevor Arthritis & Co. zuschlagen, ausreichen, um diesen Track zu erlernen; ich müsste die große Runde machen über alles, was es zu erlernen gilt – ich weiß nicht, ob das mit Bauarbeiter-Handwerker-Pfoten überhaupt geht, ob der zehnte Finger nicht doch zwingend erforderlich dafür wäre, ob der sehnenscheidengeplagten linken Ex-Akkord-Greif-Hand flüssigeres Spiel überhaupt noch beigebracht werden kann.
Aber wie soll ich das herausfinden, wenn ich nicht jetzt damit anfange?
Inzwischen ist es also ein leichter Schmerz, der den Abend beendet und die Nacht einläutet. Ein Schmerz, von der Mitte der Handwurzel ausgehend, durch ungewohnte Belastung und noch unzureichendes Training; die rotglühende Erinnerung, dass ein Zuviel nie zuträglich ist, dass die Muskeln ein wenig Ruhe brauchen, dass morgen auch noch ein Tag ist. Doch woher wollen sie das wissen, diese dummen, naiven Muskeln – wer garantiert mir einen neuen Tag, eine neue Chance? Jede Antwort darauf ist vernichtend, und ich versuche mich nochmals an dem Lauf, einmal nur noch, wie auch die letzten Male nur noch einmal waren. Die rechte Hand performt deutlich mehr, als ich je erwartet hätte, das „Ton-Ohr“ funktioniert noch so, wie ich es kenne, die linke Hand erhält die benötigte Zuwendung und erwacht. Es ist wie eine Sucht, Zeit verliert an Bedeutung. Und aus all den Misstönen und dem Danebengreifen schält sich die Melodie hervor – so viel schneller als gedacht, so viel emotionaler als erhofft.
Und die Taste ist nicht mehr einfach nur Ton, sie ist lauter Ton oder leiser Ton oder gehauchter Ton oder melancholischer Ton; sie ist Emotion. Ich lasse die Taste sagen, was ich nicht sagen kann, und wen wundern da die Misstöne. Die Taste, das bin ich.
Und das ist ein bisschen wie „ankommen“.
Der völlig uninteressante Nachsatz
Einerseits habe ich etwas richtig gemacht – mir ein „neues“ Hobby zugelegt, das mich beschäftigt, ablenkt, mir Freude macht. Andererseits ist es – neben „Handarbeiten“, „Bildbearbeitung“ und „Computer-Gedöns“ – auch nur ein weiteres Stubenhocker-Hobby. Also wieder nichts mit „neue Leute kennenlernen“ – und diesmal vielleicht final, da zeitintensiv. Mift.
Bei dem E-Piano handelt es sich um ein Casio AP-710 BK, und es hat mich in jeder Hinsicht überzeugt. Erfahrungsgemäß stürzen sich die Leute nun auf das Produktdatenblatt, bashen auf Wattzahlen, Anschlüssen und Digitalisierungsmöglichkeiten herum, verlieren sich in den technischen Details. Und lassen das, worauf es ankommt – das Gefühl des „Ankommens“ – dabei völlig außer Acht. Könnt ihr gerne machen, hab ich allerdings kein Interesse dran – verschont mich bitte.
Die Suche nach dem passenden Instrument folgte ein paar vergleichsweise einfachen Kriterien: „muss sich richtig anfühlen“, „muss bezahlbar sein“, „muss mit Kopfhörer funktionieren“ (aber das tun sie ja alle) und „sollte möglichst wenig Knöpfchen und Lichtchen haben“. Nun, wie ich gelernt habe: je weniger Knöpfchen und Sonder-Sounds, desto teurer.
Und so verwarf ich den Gedanken an alles, was lokal nicht verfügbar ist, und spielte sie alle an: Kawai, Yamaha, Roland und eben Casio, jeweils verschiedene Modelle und dann eben dieses, und da machte es „klick“. Ich kann das nicht erklären, es war so ähnlich wie bei Hubi – ich würde es mitnehmen, ich würde es glücklich nutzen, ich würde nie neidisch nach etwas anderem schielen. Das wusste ich vom ersten Moment an.
Technische Details sind vermutlich dann relevant, wenn man Auftritte plant, eine definierte Anschlagsdynamik braucht, einen Youtube-Kanal eröffnen oder sonstwie Publikum um sich scharen will. Doch wie gesagt: ich selbst im Zentrum aller Aufmerksamkeit liegt nicht in meinem Interesse. Ich „klimpere“ (wie K2 es so treffend formuliert) nur vor mich hin.
Ich habe es über six+four bezogen, auch noch ein bisschen gehandelt. Ich hab ja das Glück, diesen wirklich großartigen Laden sozusagen vor der Tür zu haben – aber ich bin sicher, die sind auch online richtig gut. Ganz klare Empfehlung meinerseits.
Dafür kann ich mit den Fingern Schrauben so fest anziehen, dass das für fast schon besorgte Blicke sorgt. ↩︎
Hintergrundbild: 1500x 1000px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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