Jahresrückblick 2020 – Vom Leben mit dem Virus
Eigentlich hat 2020 überhaupt keinen Jahresrückblick verdient, finde ich. Aber Traditionen wollen gepflegt werden – und ich hab mich im vergangenen Jahr schon nicht mit Ruhm bekleckert. Also los…
Januar steht, wie immer seit 2014, ganz im Zeichen des K2-Geburtstags. K2 erhält zudem auch ihre erste Brille, und ich hatte da so einige Befürchtungen – die sich jedoch alle nicht bewahrheiten. „Brilli“ wird sehr geliebt, regelmäßig und freiwillig getragen und schläft nachts im „Limettenhaus“ (= Brillenetui mit Zitrusdruck).
Im Februar erzählen mir Arbeitskollegen von dem da auch schon gut abgehangenen Plague, Inc.. Ich bin in Sachen Computerspiele völlig unbeleckt und höre interessiert, aber auch ein wenig abgestoßen zu – das Spielprinzip spricht mich so gar nicht an. Mir fällt der Stephen-King-Roman „The Stand“ ein, den ich 2011 im Urlaub gelesen hatte… Wie schrecklich muss das sein, wenn eine Seuche über die ganze Welt herfällt, Menschen dahinrafft, es keine Gegenmittel gibt…
Ich unternehme in jener Zeit eine Tagesfahrt – ein menschenleerer ICE bringt mich nach Paris, wo ich fast den ganzen Tag auf dem Père Lachaise herumlaufe und fotografiere, und das ist großartig. Doch schon im März schließen die Schulen… Ich erinnere mich gut an den 13. März, den letzten Schultag; das Kind empört („ALLE freuen sich, Mama, aber ICH freu mich ÜBERHAUPT NICHT!“), ich verunsichert, und wir fahren in die wie leer gefegte Innenstadt und kaufen eine Nintendo Switch. Was sich als weise Entscheidung entpuppen sollte, denn kurze Zeit später sind die Geräte auf längere Sicht ausverkauft.
Und so sind März wie auch April dominiert von Animal Crossing sowie meinem neuen Job, den ich am 16.03. angetreten hatte. Wie sich zeigt ist diese Full-Remote-Sache nicht einfach, aber ich gebe mein Bestes. Das Wetter wird schöner und ich ziehe Sämereien auf der Fensterbank während sich draußen der Klopapier-und-Hefe-Wahnsinn ausbreitet. Sogar mein Netzanbieter fordert mich dazu auf, hübsch mit dem Hintern zu Hause zu bleiben – und das tue ich auch, wir alle tun das. Ende März gründe ich den Online-Stammtisch #tabsvongesternnacht.de
– der auf Anhieb schon mehr Zuspruch erhält als ich je vermutet hätte, sich übers Jahr aber noch signifikanter weiterentwickeln wird.
„Mehr Zeit zu Hause“ bedeutet auch „mehr Zeit für Dinge, die sonst im Alltag eher untergehen“ – ab Mai wird in unserem Haushalt vermehrt gebacken. Zum einen halt einfach weil es geht (und wir zwischenzeitlich die benötigten Zutaten wieder auftreiben konnten), zum anderen auch weil jedes selbst gebackene Brot „einmal weniger einkaufen müssen“ bedeutet. Zugleich kann ich aufgrund der Umstände nicht an Steffens Beerdigung teilnehmen, wodurch ich, so glaube ich jedenfalls, seinen Tod nach wie vor nicht recht akzeptieren kann. Ich erwarte nach wie vor, dass er mit ein Like hinterlässt, in eine Diskussion einsteigt, aber da kommt nichts. Und es vergeht kein Tag, an dem ich das nicht zutiefst bedauere.
Der Juni steht stark im „Zeichen der Marmelade“ – Kirschen pflücken und verarbeiten lenkt vor allem die Kinder vom um sich greifenden Unmut ab. Ich koche die Kirschkerne aus, trockne sie und nähe mir (später) aus Stoffresten ein Kirschkernkissen – das ist doch mal optimale Nutzung von Ressourcen! 😂 Eine neue Schreibtischlampe bereichert das Homeoffice, während K2 mein abgelegtes iPhone ohne SIM-Karte übernimmt und entzückende (nicht ganz so kurze) Kurznachrichten verfasst. K2 wünscht sich unendlich dringend ein Schnuffeltuch; mit Erfüllung ihres Wunsches zieht der Avocado-Wahnsinn ein.
Im Juli stocke ich das Homeoffice erneut auf – um eine gebrauchte Teufel Concept E Magnum. Es geht mir nicht um „laut“, es geht mir um „Sound“, aber diese hier, die kann tatsächlich beides! Ich hole sie beim Verkäufer ab, was mir die erste längere Autofahrt seit langem beschert, bei herrlichem Wetter auf schöner Strecke. Derweil plane ich das „Einschulungskleid“ – K2 wünscht sich (wie kann es auch anders sein?) Avocado-Stoff…
Mit der Einschulung im August bin ich nicht glücklich; das Gezerre um „Schulen sind sicher“ und „Kinder sind keine Treiber der Pandemie“ macht mich mürbe, und nichts davon entspricht meinen Überzeugungen. Vor allem K1 ist aggressiver Stimmung, erinnern doch allenthalben Straßenplakate an Einhaltung der AHA-Regeln – „Und warum sollen die in der Schule nicht gelten?!“ Ich habe keine Antworten. Alle sind gestresst, latent gereizt, und als der Papa der Kinder plötzlich ins Krankenhaus eingewiesen wird, kommt noch eine Schicht Ungewissheit obendrauf. Einziger Lichtblick in diesem doch eigentlich so sonnigen August sind die beiden Katzen, die wir aus dem Tierheim holen: die weiße Minki und ihr Bruder, der schwarze Freddy, unsere Yin-Yang-Miezies, die alle sofort ins Herz schließen.
Wir vibrieren vor Aufregung im September, denn meine liebe K1 wird neun Jahre alt. Neun! Wir feiern im Freien und nur mit den Großeltern, bei einem großen Spaziergang auf dem Baumwipfelpfad und mit einem Bollerwagen voller Kuchen. „Der schönste Tag“, wie K1 begeistert jauchzt – trotzdem tut es mir so leid, das Risiko einer Kinderparty ist mir zu groß. Und es ist der Monat, in dem meine Gewichtsdecke bei mir eintrifft – ein verzweifelter Versuch, mit Unterstützung doch noch einmal so etwas wie Schlaf in diesem Jahr zu finden. Mein Unwort 2020 ist schon jetzt „Kultusminister(konferenz)“.
Mit Ende Oktober wird alles nochmal komplizierter – Corona und Maßnahmen und Schule und #StayAtHome
… Das Wetter wird schlechter, das Leben verlagert sich zunehmend ins Haus. Das Ausmisten des Hauses erreicht seinen vorläufigen Höhepunkt, sogar die bis dato unausgepackten Umzugskisten müssen nun dran glauben. Das ist etwas, das ich als positiv empfinde; hätten wir Dinge unternommen, wären in Urlaub gefahren, dann hätte das so nicht geklappt… Neee, zugegebenermaßen, das ist konstruiert: wirklich etwas Gutes kann ich der Sache nicht abgewinnen. Ich war nie übermäßig stark in Sachen „soziale Interaktion“, doch über die letzten Monate scheine ich alles, was damit in Zusammenhang steht, komplett verlernt zu haben: alles, was ich von mir gebe, erscheint mir hohl und blöde, und so gewöhne ich mir das Reden mehr und mehr ab.
Gefühlt ist der November ein einziger Sumpf: er vergeht zäh, viel zu schnell und deprimierend langsam zugleich. Schlaf ist etwas aus einer anderen Zeit. Meine Selbstverteidigung besteht darin, den Konsum sozialer Medien auf ein Minimum zu reduzieren und keine Nachrichten mehr zu lesen. Die wirklich relevanten Dinge gehen, so durfte ich feststellen, so oder so nicht an mir vorbei; und auf den Rest kann ich gut verzichten. Ich versuche zu schreiben, doch auch das mag mir nicht mehr von der Hand gehen: die Formulierungen sind unkreativ und nicht spontan, es fehlt der rote Faden, und dass ich mich ständig vertippe macht mich wütend. Mein einziger Lichtblick ist der Urlaub, den ich im Dezember haben werde.
Weihnachtszeit – Dezember ist da! Ich backe sehr viele Bleche Baumkuchen (IIRC waren es 6 à 1,5kg) und verschicke sie überwiegend in die Welt. Aus Resten von Tragetüchern nähe ich Einkaufstaschen und verschenke auch die alle direkt wieder. Ich nähe Kindermützen und „Avo-Hose“ und beginne endlich die Umsetzung eines von langer Hand geplanten Handarbeitprojekts, das mich vermutlich weit bis in 2021 hinein begleiten wird. Derweil gehe ich den Kindern mit frei erfundenen Termini wie „Kugel-Ast-Verhältnis“ und „allgemeine Lamettahaftigkeit“ auf den Sack, während sie die untere Hälfte des Weihnachtsbaums schmücken. Und ich amüsiere mich über die Miezen, die einen mit Baldrian gefüllten Plüschengel wahnsinnig besinnlich durch die Wohnung boxen.
Ich würde mich jetzt gerne einrollen und bis zum Tag meiner Impfung schlafen; ich bin das rückgratlose Gehampel unserer PolitikerInnen leid, ich bin die Covidioten leid, und ich frage mich wer mit wieviel Geld die Kultusministerien schmiert damit sie den unfassbaren Bullshit von sich geben den sie von sich geben. Ich bin müde und mutlos, und während sich das vermutlich gegenseitig bedingt ist die Kombination überaus lähmend. Während Corona hoffentlich früher oder später in Schranken gewiesen werden kann, werde ich meine Mitmenschen dennoch mit anderen Augen sehen als zuvor – so viele, vor denen ich jeglichen Respekt verloren habe. Ich arbeite jetzt auf Ende März hin: weil dann das Wetter hoffentlich besser wird, die Tage länger, die Bäume und Wiesen grüner – und die Impfung etwas näher. Vielleicht.
Silvester 2006 · 2007 · 2008 · 2009 · 2010 · 2011 · 2013 · 2015 · 2016 · 2017 · 2018 · 2019 · 2012 & 2014 hat es nicht einmal für einen Jahresrückblick gereicht. Aus Gründen.
Hintergrundbild: Weihnachtsbaumausschnitt, 2020, 1500x 690px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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