„Ich weiß es nicht!“
Eine ungezwungene Runde: die Erwachsenen sitzen am Tisch und unterhalten sich, die Kinder rennen umher, kichern und kreischen. Ohne jeden Kontext steht eines der Kinder plötzlich am Tisch und stellt eine dieser typischen Kinderfragen – ob Eulen eigentlich lachen können, beispielsweise, was der Unterschied zwischen einem Asteroid, einem Meteorit und einem Meteor ist, und wieviele Nullen hat eigentlich eine Million Billionen?
Mit Glück kann ich solcherlei Fragen beantworten, ganz oft ist das nicht der Fall. Dann kommuniziere ich das, und wir schauen gemeinsam, wo wir die Antwort finden können – aus Bequemlichkeit ist Google natürlich schon häufig unser Freund. Ansonsten halt Lexika, Gang in die Bücherei und so weiter – ich will mich hier nicht als Mega-Erziehungsberechtigte präsentieren, es ist einfach das wovon ich dachte, es sei üblich. Kinder brauchen Vorbilder, die ihnen einen Umgang, eine Art Kultur verschaffen in Sachen „ich weiß es nicht“. Und die, viel wichtiger noch, ihnen Ideen an die Hand geben, wie es danach weitergehen könnte – „das werde ich nachschlagen“ beispielsweise oder „da frag ich morgen mal meine Lehrerin“.
Was ich jedoch immer häufiger beobachte sind Erwachsene, die unterm Tisch googlen – verdeckt allerdings und ohne das vorherige Eingeständnis „es nicht zu wissen“. Schnell wird das Internet befragt, die Antwort als eigenes Wissen präsentiert und somit zugleich so etwas wie Allwissenheit demonstriert. Dabei ist den Protagonisten vermutlich schon klar (?), dass diese nicht vorhanden ist – sie machen das heimlich und profilieren sich auf diese absurde Art. Welches Signal soll das setzen?
Und dieses fragwürdige Verhalten beschränkt sich nicht auf den Umgang mit Kindern: dass man nicht mehr über Wissen, sondern maximal über Vermutungen spricht merkt man ganz gut daran, dass man zusammen sitzt, Ideen generiert und plötzlich Konjunktive das Gespräch dominieren – „das könnte so klappen“ und „das sollte eigentlich funktionieren“. Häufig entbehren diese Aussagen jeglicher Grundlage, aber auch die Unsicheren lassen sich dann nicht mehr lumpen und schließen sich an: „das geht bestimmt!“. Denn laufen erst einmal ein paar Allwissende voraus wird es für den Rest noch viel schwieriger zuzugeben, dass die Fragestellung in all ihren Facetten mit dem jetzigen Kenntnisstand nicht recht zu überblicken ist. Noch schwieriger wird es für den einzelnen Menschen, der Unwissenheit zugegeben hat, nun aber von den Allwissenden und ihren Konjunktiven übertönt wird – denn in der Wahrnehmung der Gruppe ist dieser Mensch der traurige Freak, der von nichts eine Ahnung hat. Wo sich doch sonst alle einig sind, dass es funktionieren müsste.
Das „Schöne“ an den vagen Konjunktiven ist, dass es sich im Ernstfall so gemütlich darauf zurückziehen lässt: „ich hab ja nur gesagt es könnte und nicht es wird!“ Es hat auch keinerlei Konsequenzen: zu überspielen, wenn man etwas nicht weiß, scheint gemeinhin akzeptiertes Verhalten. Niemand zieht die Allwissenden am Ohr und fordert für die Zukunft professionelleres Verhalten. Aber was wissen wir wirklich, und was verkaufen wir anderen lediglich als „Wissen“? Welche Möglichkeiten verbauen wir dadurch, dass wir Unwissenheit überspielen? Welche vermeidbaren Gefahren entstehen hierdurch? Welche Innovation ersticken wir im Keim, wenn wir nicht bereit sind Neues zu lernen?
Eng damit verbunden ist die oft nicht einmal explizit formulierte Anforderung, alles wissen zu müssen: im Aquarium sind Algen? Hättest du mal im Netz gelesen wie das ist mit Nährstoffen und Licht! Das Kind hat keine Lust auf Hausaufgaben? Würdest du dich mal auf Elternblogs informieren! Du kannst nicht heimwerken, den Ölwechsel an deinem Auto vornehmen oder Lastverteilung in deinem Webserver umsetzen? Dummkopf! Klar sind Leute, die keinen einzigen Blick in die jeweiligen Dokumentationen werfen, nervig. Aber was ist mit denen, die die Dokumentation gelesen, sie aber nicht recht verstanden haben? Die durchaus berechtigte Fragen stellen? Seht euch den Tenor in Webforen oder auch auf Ex-Twitter an: „RTFM“ oder „Google ist dein Freund“, haha.
Was war also zuerst – die Anspruchshaltung, dass jeder jederzeit alles wissen muss, ohne Fragen stellen zu dürfen? Oder erwuchs sie daraus, dass niemand mehr Fragen stellte, sondern Allwissenheit demonstrierte und heimlich unter der Tischplatte googelte?
Ich habe kein Fazit, vielleicht habt ihr eines. Ich finde aber, dass hierdurch sehr viel verloren geht, sehr viel Miteinander auf der Strecke bleibt, sehr viel Potential verschenkt und zu viel Druck aufgebaut wird. Und das macht sehr müde.
Hintergrundbild: Ohrenqualle im Poema del Mar, 2019, 1500x 690px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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