Die ganze Wahrheit übers Stillen
Wer stillen will, sollte sich bereits in der Schwangerschaft mit der Thematik befassen; daher nahm ich die Einladung zu einem „Informationsnachmittag zum Thema Stillen“ wahr, und ich besorgte mir das dort empfohlene Buch: „Das Stillbuch“ von Hannah Lothrop, sozusagen die Standardliteratur zum Thema. Ich rollte mich hochschwanger auf der Couch ein und begann zu lesen.
Vor 100 Jahren wurden Kinder gestillt, weil es nichts anderes gab; dann war das Stillen verpönt, weil es doch die ach-so-gute Industrienahrung gab – die eine ganze Weile entschieden vorgezogen wurde (man muss sich mal überlegen, dass es Länder gibt, in denen Werbung á la „Onkel H*pp“ schlichtweg verboten ist). Oft wurden jene Mütter, die gerne stillen wollten, nicht unterstützt beziehungsweise angeleitet, so dass die Sache schon früh zum Scheitern verurteilt war. Ganz naiv dachte ich, dass die Zeiten sich dahingehend geändert hätten, als dass jeder Frau nun der Weg offenstünde, der ihr am ehesten zusagt, aber schon nach einigen Kapiteln des Stillbuchs war mir klar: Stillen ist eine eigene Religion, und „Das Stillbuch“ ist ihre Bibel.
Ich bin aber nicht so der esoterische Typ; es liegt mir nicht, mich „nährend zu berühren“, die Vorteile des „Nacktstillens“ wollten sich mir bei winterlichen Temperaturen nicht erschließen, und ich hatte auch keinen Bock, mein „Kniegelenk freizugeben“. Insbesondere macht das Buch klar: eine Alternative zum Stillen gibt es praktisch nicht. Man muss es anfangen, man muss es durchziehen, und wenn man als Mutter Opfer zu bringen hat, dann ist das eben so. Man muss alles dafür tun. Alles. Meine Nachsorgehebamme sah das genauso. Die Muttis in den einschlägigen Foren auch. Das Kind bestimmt den Rhythmus ist das Mantra – das Kind soll also so lange trinken, bis es satt ist und von selbst abdockt, und es soll so oft trinken können, wie es das möchte. Hierbei soll akribisch auf den Wechsel zwischen linker und rechter Seite geachtet werden, auch und gerade dann, wenn das Kind eine bestimmte Seite bevorzugt (was sie fast alle tun); um den Milchfluss anzuregen kann es helfen, vor dem Anlegen eine Massage zu zelebrieren oder warme Umschläge zu machen, nach dem Stillen können kühle Umschläge lindern. Und im Falle von Entzündungen soll man sich gekühlte Kohlblätter in den BH stopfen. Schwarzteebeutel gegen wunde Stellen, Rotlicht zur Durchwärmung, Bockshornkleesamen, Stilltee und Malzbier. Und am besten legt man das Kind an, ehe es überhaupt richtig wach ist…
Die Realität indes sah deutlich anders aus: mit dem Anlegen vorm richtigen Erwachen war es schon nichts, weil mein Rumpelstilzchen einen sehr ruckartigen Rhythmus pflegte: schlafen – wach werden – in der selben Sekunde loskreischen. Und das zu Spitzenzeiten etwa alle 60 Minuten. Von „von selbst abdocken“ hat es definitiv noch nie etwas gehört, so dass so eine Still-Session sich über 90 Minuten rausziehen konnte. Dann gab’s erstmal eine frische Windel, und dann begann auch schon das nächste 90-Minuten-Intervall. Ich hab es mal in einer Nacht geschafft, innerhalb zweier Still-Sessions „Fluch der Karibik, Teil 1“ vollständig zu gucken, mit Abspann. Das führt mich zum nächsten: Stillen in dem Ausmaß ist stinklangweilig. Zumal man sich laut einschlägiger Literatur ja aufs Kind konzentrieren soll, nicht fernsehen, nicht lesen, nicht sonstwas. Starre ich mein Kind jedoch unentwegt an, dankt mir das die Schulter- und Nackenmuskulatur beim besten Willen nicht. Was einem auch keiner sagt: es tut weh. Ernsthaft jetzt. Ihr kennt die Werbung, in der die Mutter selig lächelnd in einem sonnendurchfluteten Raum am offenen Fenster sitzt, ihr offenkundig wohlentwickeltes und fröhliches Kind stillt? Vergesst das. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen „Schlafanzug den ganzen Tag über“, „Wuschelfrisur“ und „eine Hand zu wenig zwischen Stillkissen-Wurst und fuchtelndem Rumpelstilzchen“. Die Brust tut weh. Der Rücken tut weh. Und ist das Kind dann auch noch permanent unzufrieden, so schleicht sich die bange Frage ein: wird es überhaupt satt? Nicht zu unterschätzen: das Maß an körperlicher Nähe ist enorm, und hin und wieder kann es auch zu eng werden, gerade wenn das Kind sich durch nichts beruhigen lässt.
Der „große rote Teufel“ des Stillens ist die Saugverwirrung (auf englisch heißt das tatsächlich „nipple confusion“!): das Saugen an der Brust ist ein völlig anderer Bewegungsablauf als das Saugen an einer Flasche, und insbesondere ist es an der Flasche viel leichter, geht schneller und ist nicht so stressig, sprich: es kann passieren, dass ein Kind, wenn es mal erfolgreich aus Fläschchen getrunken hat, partout nicht mehr an die Brust zurück will. Davor habe ich bis heute eine so abartige Angst, dass ich es nicht zulasse, dass das Kind aus einem Fläschchen trinkt – auch dann nicht, wenn es zu meinem Vorteil wäre, ich beispielsweise mal in Ruhe einkaufen gehen könnte und der Papa hütet zu Hause das Kind. Irgendwie ist das traurig. Andererseits geht die Stillzeit vermutlich schneller rum, als man so glaubt. Naja.
Was mich seit der Geburt begleitet, ist eine latente Angst: Angst um das Kind, klar. Es könnte im Schlaf ersticken, beim Bad ertrinken, vom Sofa auf seinen Hintern oder vom Wickeltisch auf sein Köpfchen fallen – aber diese Angst meine ich gar nicht. Es ist die Angst, selbst krank zu werden: zwei böse Erkältungen habe ich bislang hinter mir, und als stillende Mutter darf man definitiv nichts Sinnvolles einnehmen. Es ist elend, ein wütendes Rumpelstilzchen satt zu kriegen, wenn man selbst nicht auf der Höhe ist, doch in aller Regel genügt „Zähne zusammenbeißen“ und dann geht’s irgendwann wieder. Doch was, wenn ich als Mutter richtige Medikamente einnehmen muss und kein Weg daran vorbeiführt? Was, wenn ich sogar stationär in die Klinik muss? Darüber will ich gar nicht nachdenken…
Mythos Gewichtsabnahme: eine vollstillende Mutter (d.h. das Baby erhält keinerlei andersartige Kost) hat einen Mehrbedarf von etwa 650kcal pro Tag; so erklärt es sich, dass viele Mütter überm Stillen eine deutliche Gewichtsabnahme verzeichnen können, ausgewogene Ernährung vorausgesetzt. Bei mir liegt der Kalorienmehrbedarf sicherlich um einiges höher, und ich bin nicht in der Lage, mich ausgewogen zu ernähren: gegen mich ist die kleine Raupe Nimmersatt sicherlich ein Musterbild an Selbstbeherrschung (Einschub: und ich kann auch das Phänomen der „Still-Demenz“ bestätigen: ich bin massiv vergesslich, habe Wortfindungsstörungen und brauchte eine gute Woche, bis mir das Wort „Selbstbeherrschung“ einfiel – vorher stand im Entwurf des Artikels der Platzhalter „Zusammenreißung“ mit drei Fragezeichen dahinter). Schon in der Schwangerschaft schlich sich die Duplo-Sucht von hinten an mich heran, doch seitdem ich stille, habe ich sicher schon so manche Ferrero-Aktie erworben. Gewichtsabnahme? Keine Spur. Ich habe schon mehr als einmal nachts um halb drei das schmatzende Kind gestillt und mir dabei Müsliriegel einverleibt, weil die Energie einfach irgendwo herkommen muss.
Und dann der Vorteil schlechthin: Stillen kann man schließlich überall – kostenfrei, wohltemperiert, mengenmäßig ohne Einschränkungen. Die Bibel verheißt hier Freiheit und Glücksgefühl für Mutter und Kind. „Diskretes Stillen in der Öffentlichkeit“ ist allerdings unmöglich, wenn das Kind die gesamte Umgebung zusammenbrüllt, nur weil die Mutter die Bluse nicht schnell genug aufbekommt – und genauso kontraproduktiv ist es, wenn das Kind in begeistertes Lachen und Glucksen ausbricht bei der Aussicht auf sein Futter, denn dann gucken die Umstehenden ebenfalls neugierig. Es gehört eine gewisse Portion Selbstbewusstsein dazu, in der Öffentlichkeit „blankzuziehen“ – das kann nicht jeder immer und überall, und schon gar nicht dann, wenn es über eine Stunde dauern wird, bis das Kind satt ist.
Ich konnte mit meiner Hebamme nicht reden; irgendwie hab ich mich durchgewurschtelt. Und ja, ich stille nach wir vor. Wirklich gut hat es erst funktioniert, als ich über nichts mehr nachdachte, das Kind auch mal abdockte, wenn es mir zu blöd wurde, und die Wahl der zu benutzenden Seite davon abhängig machte, mit welcher Hand ich selbst etwas essen/ die Kaffeetasse halten/ eine Seite im Buch umblättern/ die Fernbedienung halten will. Ich mache so ziemlich alles, was in Buch und Foren verteufelt wird, aber das Rumpelstilzchen ist morgen fünf Monate alt, und es scheint zufrieden. Ab und zu bricht es beim Stillen in Gelächter aus – was ja aber besser ist als Weinen. Und zum Schluss gebe ich euch noch ein paar Anregungen, was ihr in Anwesenheit stillender Mütter besser sein lassen solltet:
Witze über Melkmaschinen und Katzen: ausgerechnet dann, wenn eine Frau ihr Kind zu stillen beginnt, die Konversation mit „Du, ich hab da so eine Doku zum Thema Bauernhof gesehen, die hatten da so eine vollautomatisierte Melk-Straße…“ zu eröffnen ist nicht sehr sensibel. Genauso wenig Mutmaßungen, weshalb sich die Katze, die immer schon gerne von der Frau hat kraulen lassen, auf dem Schoß der Frau so wohl fühlt – sicher, die Milch macht’s! Nee Leute, das ist nicht nur unsensibel, das ist geschmacklos.
Der Mutter „lustige“ Spitznamen geben: die hat nach wie vor einen Namen und möchte nicht „Milchbar“ oder „Dauernuckel“ genannt werden. Sicher, es mag Mütter geben, die finden das ganz klasse. Das ist die Fraktion, die sich von ihren Kindern dann auch nicht „Mama“, sondern „Titti“ nennen lässt. Aber das ist nicht die Regel. Auch hier ist Zurückhaltung gefragt – und eine gewisse Sensibilität.
„Gib dem Kind doch mal was Richtiges!“ – ihr solltet eine stillende Mutter niemals mit Fragen nerven, wann sie ihrem „armen Kind“ denn nun endlich was Richtiges zu geben gedenke, sprich: alles außer Muttermilch (Nach dieser Definition sind sogar Fläschchen mit Industrienahrung richtiger als Muttermilch, und das ist schon eine ziemlich verquere Welt, oder?). Denn es geht niemanden etwas an, es ist ganz allein eine Sache zwischen Mutter und Kind.
Zumindest in diesem letzten Punkt muss ich der Bibel unumwunden rechtgeben. Und wenn jemand auf der Suche nach einem guten Buch zum Thema ist: Das Handbuch für die stillende Mutter von der La Leche Liga ist ein deutlich anderes Kaliber und hat mir sehr geholfen; darüber hinaus bietet der Verein Stillberatung per E-Mail sowie per Telefon, und dieser Service ist kostenfrei und sehr empfehlenswert.
Hintergrundbild: Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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