Der Zauber von Frühchenmützen
Es ist Januar.
Ich bin mit Arbeit eingedeckt bis zum Abwinken, denn inzwischen weiß ich, dass nur pausenlose Arbeit mich vor kreisenden Gedanken retten kann. Manchmal rächen sich diese Gedanken dann und schleichen sich hinterrücks in Form gräßlicher Träume in meinen Schlaf; dann bin ich am Folgetag unendlich traurig und gereizt und sehe ständig wieder die schlimmsten Traumbilder vor mir.
Es ist Januar, und ständig versucht etwas, irgendwas, meine Gedanken und Gefühle in diese Zeit vor drei Jahren zurück zu katapultieren: Kälte und eisiger Wind, spärlich fallende Schneeflocken und diffuses Winterlicht, der Geruch bestimmter Kosmetikartikel… es braucht nicht viel, wieder die Angst von damals zu spüren, die Einsamkeit und die Hoffnungslosigkeit. Schmerz wie der Schnitt an einer Papierkante; von außen ebenso unsichtbar.
An einen Tag erinnere ich mich, auch wenn sie mir alle viel zu präsent sind, besonders gut: ich saß auf der Neugeborenen-Intensivstation, mit der Hand im Wärmebettchen. Das Personal schien von meiner häufigen Anwesenheit genervt („Die schläft doch sowieso, die merkt nicht, ob Sie hier sitzen oder nicht.“), von außen wurden wenig hilfreiche Kommentare an mich herangetragen („Meine Frau hat immerhin Zwillinge bekommen, und die hat sich nicht so angestellt!“) und ich vermisste meine große Tochter unendlich. Kurz: ich hatte Schmerzen, hatte Sorgen, hatte Angst. Wenn das reicht. Ich starrte hinaus in das dunkelgraue Stück Himmel (die Fenster waren schmal und unmittelbar unter der Decke), hinaus in die wirbelnden Schneeflocken, und mir fehlte jede Perspektive, jede Kraft. Eine Schwesternschülerin fegte durch den Raum und drückte mir einen Schuhkarton in die Hand: ich solle mir zwei Stücke aussuchen und den Karton dann an die andere Mutter im Zimmer weitergeben. Verblüfft öffnete ich die Pappschachtel.
Mehrere gestrickte Mützen waren darin, winzig wie Puppenkleidung und leider doch passend für meine Tochter, und ebenso winzige gestrickte und sacht ausgestopfte weiße Teddybären. Ich war so gerührt, dass mir die Tränen kamen. Wirklich, ich kann auch heute nicht in Worte fassen, wie nahe mir das ging: dass eine mir fremde (wie ich später erfuhr) über 80 Jahre alte Dame eigeninitiativ diese winzigen Dinge in mühevoller Handarbeit herstellte und dieser Station schenkte. Um Freude zu machen. Um Hoffnung zu geben. Und ich wünschte, ich könnte ihr danken. Könnte ihr sagen, wie viel mir dieser winzige Teddy bedeutet, der von jenem Tage an mit im Wärmebettchen (und viel später, zu Hause, im Kinderwagen) sitzen durfte. Er hat an keinem unserer Probleme etwas geändert, und doch veränderte er vieles.
Dieser Beitrag ist Gruß und Dank für jene alte Dame und für alle da draußen, die selbstlos kleine Mützchen arbeiten und damit einen Sonnenstrahl in triste Intensivräume und weinende Herzen tragen: es ist großartig, dass es Menschen wie euch gibt. Solltet ihr eure winzigen Arbeiten je kritisch betrachtet oder an der Sinnhaftigkeit dieser Tätigkeit gezweifelt haben: bitte seid nicht kritisch, zweifelt nicht. Ihr werdet gebraucht.
Ich habe schon oft darüber nachgedacht, es der alten Dame gleichzutun; in Sachen Handarbeiten bin ich nicht unbegabt, und schöne Baumwollgarne habe ich immer im Haus. Doch der nicht existente Abstand zu dem, was war, macht es mir unmöglich.
Später vielleicht, irgendwann. Vielleicht, wenn ich 80 bin.
Hintergrundbild: 1440x 530px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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