Das Hotel
Ich hatte es nur aus der Ferne und nur aus den Augenwinkeln gesehen: ein düsteres Gebäude, groß und irgendwie bedrohlich. Auf einem Hügel. Entfernung Luftlinie grob geschätzte zwei Kilometer.
Ich schlug eine Richtung ein, die mir irgendwie passend erschien, und interessanterweise fand ich das Gebäude auf dem geraden Wege, ohne mehrfach zu wenden, ohne den letzten Nerv an den Garmin zu verlieren. Einsetzender Nieselregen und die Ausläufer von Sturmtief „Emma“ bedingten die menschenleeren Straßen, die späte Nachmittagsstunde das schwindende Licht, und die Gesamtheit dieser Eindrücke bedingte ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit, Leere, von Auf-sich-allein-gestellt-Sein.
Das erste Mal seit langer Zeit wird ein Auto auf diesem Parkplatz abgestellt. Auf dem Stellplatz nebenan liegt ein Stuhl, die Polster aufgequollen von Feuchtigkeit, das Gestänge verrostet, unter der Sitzfläche noch das Informationsschild des VEB. Nikon um den Hals, Stativ auf der Schulter, Maglite in der Tasche. Bin ich allein? Ich kann’s nicht einschätzen, und das Umrunden des Gebäudes an der Stirnseite und Betreten durch eine ausgebrochene Türöffnung kosten Überwindung.
Die Fahrstühle wurden auf die oberste Ebene heraufgefahren und in die offenen Fahrstuhlschächte Müll und Mobiliar geworfen. Beim Herunterfahren der Fahrstühle verbogen und verzogen sich diese, und nun stecken sie unwiderruflich fest – laut und unheimlich klappernd im Sturm, der draußen wütet, durch die kahlen Gänge fegt, Putz von den Wänden wischt und ein schreckliches sausendes Geräusch verursacht. Auch hier sind die Wände mit Zeitungspapier tapeziert, doch ist es deutlich älter als das, das ich in den Gebäuden der Innenstadt entdeckt hatte – hier hätte ich Stunden mit dem Lesen der Wände zubringen können. Und stumm vor Staunen las ich Artikel darüber, „Was die Magdeburger Bauleute im Wohnungsbau so gut voranbringt – Bewährte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, über „Tatkräftiges Wirken für das Wohlbefinden der Menschen“ und auch diesen: „70 Jahre Kampf und Opfer haben sich gelohnt – Große Resonanz auf die von der 6. Tagung des ZK der SED beschlossenen Thesen zum 70. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands“.
Ich stehe im vierten Stock, und weiter hinauf traue ich mich nicht. Wasser strömt in großen Mengen die Wände herab, der Beton ist faulig, Wände bröckeln und der Sturm tobt. Trotz Stativ und der Tatsache, dass ich mich nicht in freiem Gelände befinde sind Langzeitbelichtungen Glückssache, die Kamera steht einfach nicht stabil, und im Treppenhaus werde ich die Stufen quasi hinunter geweht. Schritte und das Klirren von Glas lassen keinen Zweifel daran: ich bin nicht alleine, und ich weiß nicht, was mich unten erwarten wird. Ich schleiche die Treppen herab, und als schwarze Silhouette steht im Gang, inmitten der im Sturm flatternden Zeitungsfetzen, im Plätschern des aus der Decke herabtropfenden Wassers, im schräg einfallenden Licht der untergehenden trüben Wintersonne steht ein jugendliches Liebespaar, sich selbstvergessen küssend in der Ruine des verlassenen Hotels in Chemnitz, geschützt vor der Öffentlichkeit in einem Gebäude, das bald Geschichte sein wird wie so vieles, eingerissen, entsorgt und Vergangenheit für immer.
Unbemerkt schlich ich mich hinaus; nur Erich gewahrte meinen heldenhaften Mut.
Hintergrundbild: 900x 600px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten