Cattenom

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Als Kind war mir irgendwie unbehaglich, als wir auf dem Heimweg über eine Kuppe fuhren und meine Mutter mir erklärte, die Rauchsäulen da drüben am Horizont, das sei Cattenom. Ich liess mir die Aussage erklären – schließlich hätte Cattenom auch ein Fremdwort für Rauchsäule sein können – und natürlich meinte sie weder den Ort an sich und auch nicht alles, was es da sonst vielleicht zu sehen gibt, sondern das Kernkraftwerk.

Cattenom. Knappe 2500 Einwohner, eigentlich ein recht malerisches Örtchen. Oberleitungen, Stangenbrote, winklige Gassen, Bruchsteinhäuschen. Sogar ein Stück der „Ligne Maginot“. Aber eben auch das drittgrößte Kernkraftwerk Frankreichs, und es trifft einen ein wenig unvermittelt, wenn man umherfährt und plötzlich vor den vier großen Kühltürmen steht.

Wie man mir erzählte, wurden nach der Inbetriebnahme 1986 regelrechte Krisensitzungen veranstaltet: so wurden die Anwohner meines Wohnortes sowie der umliegenden Ortschaften angewiesen, im Falle eines Ernstfalls das Vieh in den nahegelegenen stillgelegten Eisenbahntunnel zu treiben, und während Frauen und Kinder ebenfalls im Tunnel verbleiben sollten, würden sich die Herren der Schöpfung zu ihren Wohnorten zurückbegeben und diese vor Plünderern bewahren. Szenen wie beim Luftangriff; inwiefern der Tunnel Mensch und Tier vor der Katastrophe hätte bewahren sollen sei einmal dahingestellt. Zudem hätte so mancher Einheimische wohl ohnehin die Reaktorkatastrophe dem Tunnel vorgezogen, der als „Porte de l’enfer“ zweifelhaften Ruhm genießt und in dem es während des zweiten Weltkriegs zu einem grässlichen Blutbad gekommen sein soll… Angeblich bin ich als Anwohnerin bis heute berechtigt, regelmäßig und unentgeltlich von der Gemeinde meine Ration Iodtabletten zu beziehen, und ich sollte da wirklich mal da anrufen und diese Aussage verifizieren – ich bin ja doch neugierig.

Insofern guckt man schon ein Stück weit dummer als üblicherweise, wenn nachts um halb ein plötzlich der Strom ausfällt; nicht nur im Haus, sondern auch auf der Straße. Auch in den Nachbarorten. Ein ganzer Landstrich ist dunkel, und die Sache mit den Plünderern wirkt plötzlich um einiges realistischer als zuvor. Der gesamte Ort: Schatten. Was wütend macht: der Reflex, ständig auf irgendwelche Lichtschalter zu drücken. Die Mini-Maglite spielt Kerze auf dem Wohnzimmertisch, kein Radio, kein Telefon, kein Handy – auch die Mobilfunkmasten sind aus. Nach etwa zweieinhalb Stunden wird der Ort wieder zugeschaltet; Näheres erfährt man nicht. Seither geht alles den gewohnten Gang, und man sollte es sich verkneifen, Stricknadeln in die Steckdosen zu stopfen.

Und doch bleibt ein flaues Gefühl: wenn man auf dem Nachhauseweg, wie immer, den vier Kühltürmen in der Ferne einen leisen Gruß sendet… und doch ist aktuell nur einer von den vieren in Betrieb, und sonst waren es immer mindestens drei…

Chernobyl Legacy

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