Auf Abwegen
Ich knie vornübergebeut im Sand. Mein nasser Rock klebt mir an den Beinen, mein Gesicht ist sandig. Das rechte Auge zugekniffen, mit dem linken fixiere ich den Sucher – mir bleibt maximal eine Viertelstunde.
Ich knie im Sand, allein. Ich habe meinen Job gekündigt und muss Resturlaub und Überstunden abbauen, und so kommt es zu einer Konstellation, die es üblicherweise nicht gibt: ich habe frei, die Kinder jedoch nicht. „Ich könnte ja Urlaub machen“ witzelte ich wenige Wochen zuvor, „mach doch!“ konterte die Familie sofort. Die Kinder sind nicht so klein, dass sie ein paar Tage ohne Mama nicht aushalten würden, Papa ist ja da. Die fixe Idee nahm Gestalt an, doch ich war voll des schlechten Gewissens – darf man das, als Mama? Alleine weg fahren und sich darüber, darauf freuen? Ich schwöre es: hätte meine Mutter am Telefon nicht denn Cheerleader gegeben, hätte ich niemals auf „Jetzt buchen!“ geklickt (danke, Mama!).
Und dann saß ich plötzlich am Frankfurter Flughafen. NC-Kopfhörer, Reisetasche, Fotorucksack, Kopfkissen (ein Muss). Ein wunderbar sonniger Tag, Blick aufs Rollfeld. Der Abflug verzögert sich, na und? Mir doch egal, ich hab hier einen Latte Macchiato und viel zu schauen. Für die Rentergruppe, die ach-so-lustige Neger- und Frauenwitze reißt, ziehe ich sogar kurz den Kopfhörer aus – danach lästern sie über die flüchtlingsliebende Emanze, was mir aber wie eine gute Alternative erscheint. Ein wunderbarer Flug, die Kopfhörer wachsen so langsam an mir fest. Handarbeit auf dem Schoß und Nonsens-Sendung auf dem Handy; Zuhören und Häkeln ohne Unterbrechung und voller Genuss. Blick nach draußen: Wattewolken und Sonne, Frankreich und Spanien, Portugal und Marokko. Sanfte Landung in Las Palmas, albernes Klatschen der übrigen Reisenden. Als eine der letzten erhalte ich mein Köfferchen, und während die meisten sich zu den Transferbussen aufmachen, hole ich meinen vorbestellten Mietwagen – die kleinstmögliche Gurke, weiß wie alle Mietwagen hier. Bizarr untermotorisiert, dafür mit dem Subwoofer-Mega-Paket (warum wissen die Götter) – also fix Handy verbunden, Playlist gestartet und los.
Und dann knie ich vornübergebeugt im Sand, und mein nasser Rock klebt mir an den Beinen. Der Sonnenuntergang ist phänomenal, und nachdem ich eine gute Stunde an der Wasserlinie entlang gelaufen bin – Schuhe in der Hand, Füße in den Wellen – versuche ich mich nun an möglichst stimmungsvollen Bildern im schwindenden Licht. Eine alte Dame spaziert an mir vorbei, hält mich für eine Berufsfotografin. „Ich bewundere Sie für das, was Sie da tun!“ sagt sie so freundlich, und schon wandert sie weiter und ich schaue verdutzt. Linkerhand ist die Sonne nahezu vollständig verschwunden und der Himmel glüht rot, rechterhand schwebt der Vollmond überm Atlantik, eiskalt und hell und so perfekt. Für Mondaufnahmen habe ich kein passendes Objektiv, aber experimentieren will ich trotzdem – niemand quatscht, niemand stört, und wir drei sind ganz allein, der Mond und der Atlantik und ich. Das Stativ steht stabil im Sand, ich liebe dieses Stativ, und nun geht die Kamera nicht mehr an. Aus. An. Aus. An. Akku raus. Akku rein. Akku raus. Ersatz-Akku rein. Nichts.
Da stehe ich am Atlantik und beweine meinen treuen Freund EOS 60D, der mich nun neun Jahre begleitet hat. Ich fühle mich zerknautscht, Papa leistet per WhatsApp Hilfestellung – das Fotografieren hab ich von ihm, er kann verstehen, warum ich so unglücklich bin. Die komplett aufgeklappte Kamera darf die Nacht in meinem guten Wollpullover verbringen – sollte sie Feuchtigkeit gezogen haben, wird sie die so vielleicht wieder los – doch es hilft nichts: auch am nächsten Tag gibt sie kein Lebenszeichen von sich. Ich schwinge mich in mein lustiges weißes Auto. Die Fahrt nach Las Palmas ist lang, die Stadt unübersichtlich und groß. Die Verkäufer im einzigen Fotoladen der Stadt sprechen leidlich Englisch und verweisen mich an einen Kumpel, der Kameras repariert; ich wandere kilometerweit zu Fuß, die kaputte Kamera auf dem Rücken, und der Kumpel versteht mich nicht – wir kommunizieren an seinem Rechner über Google Translate. Kurzfristig wird er mir nicht helfen können, und mein Entschluss ist gefasst: ich wandere zurück und kaufe im Fotoladen den EOS 80D-Body. Und den zu einem wirklich unfassbar guten Preis.
Zwei selige Stunden sitze ich an der Strandpromenade, trinke Kaffee im Schatten und mache mich mit der Bedienung des neuen Schätzchens vertraut. Den Nachmittag verbringe ich im Poema del Mar, einem gigantischen Aquarium im Hafen von Las Palmas – mehr denn je wünsche ich mir nun ein Salzwasserbecken. Stattdessen kaufe ich „Sterni“ und fahre mit ihm zu El Agujero, einem Naturschwimmbecken ganz im Norden der Insel. Hier sitze ich dem Kindle in der Sonne, doch als der Zeitpunkt des Sonnenuntergangs naht bewölkt sich der Himmel, und es beginnt zu nieseln. Mir egal. Ich hab jetzt die beste Kamera der Welt (für mich zumindest, ich liebe sie), und die alte lässt sich vielleicht als Backup sogar reparieren. Auf der wirklich sehr langen Rückfahrt von Gáldar nach Mogan singe ich laut, und „Sterni“ auf dem Beifahrersitz grinst.
Es war eine wunderschöne Woche. Das erste Mal seit über 10 Jahren richtete ich mich nach niemandem außer mir selbst; ich musste nicht dauernd reden, wenn mir nicht danach war, ich musste nicht springen, wenn ich nicht springen wollte, und ich musste mich mit keinerlei Befindlichkeiten auseinandersetzen außer meinen eigenen. An einem unfassbar verregneten Tag – es gewitterte, und Blitze zuckten an drei verschiedenen Stellen des Himmels – lag ich mit Kaffee und Schokolade auf der Couch meines Appartements und schaute den Film „Ida“: ein Film wie ein Gemälde, bildgewaltig und unfassbar ergreifend. Und niemand unterbrach mich dabei, und ich musste auch nicht reden. Auch nicht beim Pizzafuttern an der Promenade, nicht beim Tauchgang im U-Boot, nicht beim Lesen im warmen Sand.
Es war magisch. Und unheimlich. Zu lang und doch viel zu kurz. Ich bin froh, dass ich es gewagt habe, es hat nämlich – aus mehreren Gründen – wirklich Überwindung gekostet. Die Kinder haben keine bleibenden Schäden davongetragen. Und im Endeffekt ist man eben doch ersetzbarer, als man es wahrhaben will… Sollte sich die Möglichkeit irgendwann erneut ergeben – ich würde es wieder tun. Und dann hoffentlich mit weniger schlechtem Gewissen, das hat mir die Sache nämlich teilweise schon ganz schön versaut.
Hintergrundbild: Panoramascheibe im Poema Del Mar Gran Canaria, 2019, 1500x 1000px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
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