Zwölf Stunden vor der Abreise
Der Koffer ist zu schwer.
Warum? Wieso? Er ist nicht einmal voll. Ich musste nicht stopfen, es musste sich niemand auf den Deckel setzen, um das Ding zumachen zu können. Verarscht mich die Waage? Wenn ich mich draufstelle zeigt sie ja auch immer zu viel an! Also wiegen und den Inhalt einer kritischen Sichtung unterziehen; ich brauche aber alles, was da drin ist, sonst müsste ich entweder nackt rumlaufen, ohne Unterwäsche oder würde Sonnenbrand kriegen – je nachdem, was ich zu Hause ließe. Das mit dem Handy hat sich ja geklärt – dafür stelle ich jetzt fest, dass die Tiefkühltruhe vereist ist. Also Truhe abtauen, Überschwemmung im Gange. Eklige, halb aufgetaute Dinge dümpeln in riesigen Eismassen, Winterstimmung pur im Flur! Ich suche alte Laken, alte Handtücher, alles, womit sich der Sturzbach irgendwie eindämmen ließe. Irrer Blick auf die Uhr: in einer Stunde wollte ich losfahren. Und der Koffer ist nach wie vor zu schwer.
Ich flitze in die Küche, überlege; blitzschnell bringe ich einen Liter Wasser zum Kochen und befülle Wärmflasche Nr. 1, stopfe die Moor-Wärmflasche in die Mikrowelle, stecke beide in die Tiefkühltruhe. So: tau ab! Entschlossen eliminiere ich die große Shampoo-Flasche und ein paar Klamotten aus dem Koffer, packe, schleppe Dinge umher, wuchte den Koffer mit schmerzendem Kreuz wieder und wieder auf die Waage – da! Endlich! Koffer zu drei Vierteln leer, aber „Ziel erreicht“. Währenddessen erneutes Befüllen bzw. Erhitzen der Wärmflaschen, Wischen im Flur, Entsorgen halb aufgetauter Lebensmittel.
Verdammt, jetzt ist die Mülltonne voll. Argh. Abfuhr erst in einer Woche, aber da bin ich weg – also zerre ich die Tonne vors Haus, wringe bei der Gelegenheit mit vor Kälte starren und schmerzenden Fingern die Laken und Handtücher aus. Die Kühltruhe ist sauber und trocken, Laken und Handtücher gewaschen und hängen zum Trocknen in der Gegend rum, der Koffer liegt im Auto, ein letzter Rundgang: der Miez geht’s gut und sie ist versorgt, alle Stromstecker ziehen, alle Fenster schließen, den Heizungsbrenner energiesparend einstellen. Blick auf die Uhr: drei Stunden Verspätung.
Ich hüpfe ins Auto; nasskaltes Wetter, Nieselregen, schlechte Sicht, leerer Tank. Stau auf der Autobahn, kein Parkplatz bei McDoof in Mayen-Mendig. Schließlich, etwa 2 Uhr nachts: Autobahnabfahrt Dortmund erreicht. Nach endlosem Gurken finde ich mich am Dortmunder Hauptbahnhof wieder; in dem Moment dämmert mir, dass es vielleicht doch eine gute Idee gewesen wäre, das Navigationssystem mitzunehmen; meine Planung jedoch beinhaltete lediglich „im Urlaub brauch’ ich das ja nicht“, nicht aber die Frage „wie komme ich eigentlich zum Flughafen“ oder „wie finde ich hoffnungslos übermüdet, da mehrere Stunden zu spät, die korrekte Autobahnabfahrt?“.
Das Handy ist selbstverständlich nicht aufgeladen; per Münzfernsprecher (jaha! Sowas gibt’s tatsächlich noch!) lasse ich mir erklären, wie ich mich idealerweise aus dieser völlig verkehrten Ecke Dortmunds in die richtige Richtung bewege. Hoffnungsvoll lasse ich den Motor an, eiere los und werde nach etwa drei Kilometern von einem freundlichen Menschen in grün-weiß an den Straßenrand gewunken. Wütend trümmere ich aufs Lenkrad ein und fluche vernehmlich vor mich hin; verdammt, ich bin müde, ich will schlafen, und zwar sofort, und jetzt das.
Das Autofenster ist auf. Hatte ich nicht bedacht. Argh. Als erstes erhalte ich eine Rüge, weil ich nachts um kurz nach halb drei in der Dortmunder Innenstadt „Scheiße!“ gerufen habe (den Rest hat er zum Glück nicht mitbekommen/ nicht verstanden/ ignoriert). Alsdann werden meine Papiere einer kritischen Sichtung unterzogen und ich muss erklären, was es mit dem Autokennzeichen SLS auf sich hat („Saarlouis? Hahaha! Hab ich ja noch nie gehört! Und das ist noch Deutschland?“) und warum ich um die Zeit in Dortmund rumfahre (bissige Kommentare á la „Dies ist ein freies Land“ spare ich mir lieber, da ich meinen Frauen-Bonus mit der Flucherei sicher schon aufgebraucht habe). Dann will er mich zum Kaffeetrinken an eine Tankstelle schicken („Sie sind viel zu müde, Sie können doch so nicht weiterfahren!“) und gibt mir schließlich ungnädig meine Papiere zurück – nicht ohne den Hinweis, er habe keinen Bock, meinetwegen heute nacht auch noch einen Unfall aufnehmen zu müssen. Freundlicherweise erklärt er mir den weiteren Weg, und ich bin entlassen.
Auf dem Weg zum Auto bemerke ich, dass ich ihm im allgemeinen Gewimmel gar nicht die Papiere von meinem Auto gegeben habe, sondern die vom Motorrad. War mir nicht aufgefallen – ihm aber auch nicht.
Da war wohl jemand müde, hm? ;)
Hintergrundbild: 1200x 500px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten