Volljährigkeit

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Wandert mein Blick vom Monitor nach oben, schaue ich automatisch immer an der gleichen Stelle aus dem Fenster: auf das leicht eingesunkene Dach des gegenüberliegenden Hauses, das mit der schmutzigen Dachluke und den angelaufenen, ebenfalls im Einsinken begriffenen Solarpanels.

Daneben: ein briefmarkengroßes Stück Himmel, das Rückschlüsse auf die aktuelle Wetterlage zulässt (gerade ist es grau, der Himmel hängt sehr tief; und gemessen an der Uhrzeit ist es viel zu dunkel).

Davor: ein nicht näher spezifizierter Baum, dessen Verhalten die Rückschlüsse auf die aktuelle Wetterlage gegebenenfalls weiter zu verfeinern ermöglicht (gerade zum Beispiel reißt ein sehr starker Wind dem nicht näher spezifizierten Baum wahllos Blätter ab).

Manchmal lehne ich mich zurück und schaue einfach vor mich hin. Betrachte das aufgeklappte E-Piano mit dem wirren Notenstapel. Die Gardine, die ich so dringend mal wieder waschen müsste (seit ich praktisch täglich Klavier spiele, hat sie plötzlich Kaffeeflecken – nein, ich möchte nicht darüber reden). Die beiden Fenster mit den staubigen Plüsch-Gewänden, die Pflanzen auf den tiefen Fensterbänken. Den Schrank mit dem Foto-Equipment, „den Zen-Garten™“, die NeXT. Mein vollgestopftes Arbeitszimmer.

Weit weg von heute und hier gab es ein anderes Arbeitszimmer, aber ich sehe es noch ähnlich deutlich vor mir: Schreibtisch, Kaffeetasse, offenes Chat-Fenster. Drinnen kühl, auch wenn es draußen sehr warm war. Die Miez, die herumlag und so tat, als gebe es mich gar nicht. Niedrige Decke, schiefer Holzboden. Verschiedenste Rechner und Terminals, viele, viel zu viele. 384er DSL, SGI, Sun. Ich nutzte einen schweren 3com-Hub, weil mir für einen Switch das Geld fehlte. Draußen ab und zu ein Trecker.

Mich selbst habe ich nicht mehr so deutlich vor Augen. Aber ich war schon sehr anders, damals, als ich den ersten Artikel veröffentlichte. Er war der Grundstein für dieses Blog.
Ein Blog, das – im Gegensatz zu so vielen anderen von damals – nach wie vor existiert; irgendwie hat es die Zeit überdauert. Nicht alle Artikel sind noch online – manches fühlte sich über die Jahre nicht mehr richtig an. Anderes lasse ich bewusst darin; denn die Person, die damals geschrieben hat, war viele Jahre jünger, und sie hat sich weiterentwickelt. So wie auch das Blog sich weiterentwickelt hat, sich den jeweiligen Gegebenheiten anpasste.
Wir sind sozusagen gemeinsam erwachsen geworden.

Denn am 24. Juli 2024 hat mein Blog seinen 18. Geburtstag gefeiert – still und leise und weitgehend unbeachtet. Auch ich selbst hatte dieses Jubiläum nicht recht auf dem Schirm. Oder richtiger: im März habe ich sogar mal daran gedacht, danach dann aber nicht mehr. Sträfliche Vernachlässigung, wo doch in den Anfängen des Bloggens sogar „volle Monate“ und „halbe Jahre“ hinreichend Anlass boten für enthusiastische Artikel und ein gewisses Maß an Angeberei. Wären da 18 Jahre nicht wenigstens Grund genug für eine kleine Konfettikanone gewesen?

Jedoch: zu viel, was derzeit passiert, alternativlos und teils termingebunden. Irgendwie hänge ich zwischen zwei Leben: einem alten (oder besser: bisherigen), das mir nicht mehr passt, das mir zu eng ist, aus dem ich mich herauswinde; und einem neuen, das noch viele Fragen unbeantwortet lässt, das mir noch zu weit ist, dem sozusagen die Abnäher fehlen und in das ich erst hineinwachsen muss.
Gerade sind die Prioritäten andere.
Und je höher die Wellen in meinem Leben schlagen, desto stiller es auf dem Blog; rückblickend betrachtet scheint das eine Art Grundregel zu sein.

Seit Monaten herrscht der übliche Wahnsinn, aber er ist dauerhaft gespickt mit zu vielen special effects und unexpected contributing opportunities – zwischenmenschlicher, handwerklicher, gesundheitlicher, mentaler Art. Viel Fortschritt, aber auch viele Sorgen, und ich würde mich nur zu gerne einmal so richtig und aus vollem Herzen langweilen. Da kann so ein Blog-Geburtstag durchaus einmal hintenüber fallen.
Selbst, wenn es ein so besonderer ist.

Generell sind Blogs ja auch irgendwie „out“.
Es gibt doch so unendlich viele Alternativen! Alternativen, die das Konsumieren von Inhalten vereinfachen, kurzfristigere Interaktion ermöglichen, das Selberlesen ersparen… In einer Welt voller Podcasts und AI-generierter Spaßbildchen, voller Youtube-Erklärvideos und TikToks komme ich mir vor wie ein Dinosaurier mit meinen überlangen Texten, meinen selbst aufgenommenen Bildern und meiner mehr als wirren Themenauswahl.
Aber wo wir schon von Dinosauriern sprechen: das E/N-Prinzip wird in diesem Artikel als möglicher Vorläufer des Begriffs „Weblog“ gehandelt (welcher dann später zu „Blog“ verkürzt wurde). E/N steht in diesem Kontext für „everything/nothing“:

„The explanation I read back in the day was that e/n is something that means everything to the person who’s writing it, and nothing to everyone else.“

Und ich finde, das beschreibt meine Präsenz hier ganz exzellent.
Idealerweise wird die Zukunft mehr Ruhe für mich bereithalten, mehr Beständigkeit, mehr Planbarkeit. Vermutlich nicht direkt, aber hoffentlich doch absehbar. Und dann kann es auch hier weitergehen – mit noch mehr wirren „E/N“ Themen und noch mehr überlangen „E/N“ Texten.

🎶 HAPPY BIRTHDAY, DEAR UNIXE.DE! 🎉

Wenn auch exakt zwei Monate zu spät 🥲

Alle Bilder dieser Seite: © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten
Hintergrundbild: 1500x 1000px, Bild genauer anschauen – © Marianne Spiller – Alle Rechte vorbehalten

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